Schriftauslegung ist wichtig, um die Bibel richtig zu verstehen und zu lehren
Wir müssen verstehen, was die Bibel bedeutet, bevor wir erkennen können, was ihre Botschaft für heute ist. Ohne Hermeneutik (die Wissenschaft und Kunst der Schriftauslegung) überspringen wir einen unerlässlichen Schritt des Bibelstudiums.
Beim ersten Schritt – der Beobachtung – fragt man: „Was steht hier?“
Beim zweiten Schritt – der Auslegung – fragt man: „Was bedeutet das?“
Beim dritten Schritt – der Anwendung – stellt sich die Frage: „Inwiefern gilt dies für mich?“
Die Auslegung ist wohl der schwierigste und zeitaufwendigste dieser drei Schritte. Und doch gelangt man beim Bibelstudium zu schwerwiegenden Irrtümern und falschen Schlüssen, wenn man diesen Schritt auslässt. Manche verfälschen wissentlich das Wort Gottes (2Kor 4,2). Andere verdrehen sogar die Schrift „zu ihrem eigenen Verderben“ (2Petr 3,16). Einige kommen beim Bibellesen unwissentlich zu falschen Auslegungen. Warum? Weil sie die Grundsätze missachten, die nötig sind, um die Schrift zu verstehen.
In den letzten Jahren ist das Interesse an informellem Bibelstudium stark angestiegen. Viele Kleingruppen treffen sich wöchentlich in Wohnungen oder in Gemeinden, um über die Bibel zu diskutieren – was sie bedeutet und wie sich das auf uns bezieht. Kommen die Leute in diesen Gruppen immer zu demselben Verständnis des Abschnitts, den sie studierten? Nicht unbedingt. Manche sagen vielleicht: „Für mich bedeutet dieser Vers dieses“ und jemand anders in der Gruppe entgegnet möglicherweise: „Für mich bedeutet dieser Vers nicht dies, sondern das.“ Wenn man die Bibel auf diese Weise studiert, also ohne angemessene hermeneutische Richtlinien, kann das zu Verwirrung und sogar zu Auslegungen führen, die einander direkt widersprechen. Ist es Gottes Absicht, dass wir so mit der Bibel umgehen?
Wie kann die Bibel eine zuverlässige Richtschnur sein, wenn man ihr alle möglichen Bedeutungen zuschreiben darf?
Einander widersprechende Auslegungen von Bibelstellen gibt es zuhauf. Der Vers in Johannes 10,28 („Ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben“) wird von manchen beispielsweise in dem Sinn verstanden, dass dieser Vers ewige Heilssicherheit lehrt. Andere erklären denselben Vers folgendermaßen: Zwar könne niemand einen Christen aus Gottes Hand reißen; der Gläubige aber könne sich selbst aus Gottes Hand entfernen, indem er in Sünde verharrt. Manche meinen, Paulus‘ Aussage in Kolosser 1,15 (Christus ist „der Erstgeborene aller Schöpfung“) bedeute, Christus sei erschaffen worden. Andere verstehen diesen Vers wie folgt: Wie der erstgeborene Sohn in einer Familie ist Christus der Erbe. Einige Christen praktizieren das sogenannte „Zungenreden“ und berufen sich dabei auf 1. Korinther 12–14. Andere hingegen entnehmen denselben Kapiteln, dass diese Praxis nur für die Zeit der Apostel bestimmt war und nicht für unsere Zeit. Aus Nahum 2,5 („Auf den Straßen rasen die Wagen, sie überrennen sich auf den Plätzen“) wird bisweilen geschlossen, dieser Vers prophezeie das hohe Verkehrsaufkommen unserer heutigen Städte. Auch wurde versucht, dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37), eine „geistliche“ Bedeutung zu geben: Die Herberge, in die der Samariter den Verwundeten bringt, stehe für die Kirche; die zwei Denare, die er dem Wirt gibt, stünden für die zwei Sakramente der Taufe und des Abendmahls.
Der leitende Mormone Brigham Young rechtfertigte es, mit über dreißig Frauen verheiratet zu sein, indem er darauf hinwies, dass auch Abraham mehr als nur eine Frau hatte, nämlich Sarah und Hagar. Die Mormonen begründen ihren Brauch, sich für verstorbene Verwandte und andere Tote taufen zu lassen, mit 1. Korinther 15,29. Andere nehmen Giftschlangen in die Hand, was auf ihrem Verständnis von Markus 16,18 beruht. Ob Frauen Männer lehren dürfen, hängt davon ab, wie man 1. Korinther 11,5; 14,33b–35 und 1. Timotheus 2,12 versteht. Einige lehren, Christus werde nach seiner Wiederkunft kein Tausendjähriges Reich auf der Erde errichten, sondern herrsche schon jetzt im Himmel. Andere jedoch sagen, die Bibel lehre, dass Christus zwar schon jetzt über die ganze Schöpfung herrsche; er werde aber sein Reich sichtbar manifestieren, wenn er als Messias über das Volk Israel auf dieser Erde im Millennium regiert.
All dies – und noch viel mehr – ist eine Frage der Auslegung. Offensichtlich zeigen diese verschiedenen, widersprüchlichen Meinungen, dass nicht alle Bibelleser denselben Grundsätzen folgen, um die Schrift zu verstehen.
Das Fehlen sachgemäßer Hermeneutik hat auch dazu geführt, dass die Bibel in höchstem Maß missbraucht wurde und dadurch zu einem schlechten Ruf gelangt ist. Selbst manche Atheisten versuchen, ihre Haltung mit Psalm 14,1 zu begründen: „Es ist kein Gott!“ Offenbar haben sie übersehen, wie dieser Satz beginnt: „Der Tor spricht in seinem Herzen: ,Es ist kein Gott!ʼ“ Manche behaupten: „Man kann dem Bibeltext jede beliebige Bedeutung zuschreiben.“ Doch wie viele von denen, die so reden, würden sagen: „Man kann Shakespeares Werken jede beliebige Bedeutung zuschreiben“? Natürlich kann man einem Bibeltext alle möglichen Bedeutungen zuschreiben – solange man missachtet, wie man normalerweise an schriftliche Dokumente herangeht.
Schriftauslegung ist ein unerlässlicher Schritt nach dem Beobachten
Viele Bibelleser gehen vom Beobachten gleich zur Anwendung über und überspringen dabei den unerlässlichen Schritt der Auslegung. Das jedoch ist falsch, weil die Auslegung der zweite logische Schritt nach dem Beobachten ist.
Beim Beobachten sondiert man, was die Bibel sagt; bei der Auslegung überdenkt man dies.
Beim Beobachten entdeckt man, bei der Auslegung durchdenkt man. Beobachten heißt darzustellen, was dort steht; Auslegen heißt zu entscheiden, was es bedeutet. Das eine ist das Entdecken, das andere das Erklären.
Beobachtung ist, als würde ein Chirurg einen Schnitt in einen Problembereich machen. Er sieht vielleicht eine Wucherung oder eine Blutung, vielleicht auch verfärbtes Gewebe oder einen Verschluss. Dann lautet die Frage: Was bedeutet das? Wie ist das zu erklären? Was für eine Art von Wucherung ist das? Was verursacht die Blutung? Warum ist das Gewebe verfärbt? Warum ist hier ein Verschluss?
Wenn wir beobachten, was in einem Bibeltext zu sehen ist, müssen wir anschließend richtig damit umgehen (2Tim 2,15). Für den Ausdruck „richtig umgehen“ steht im Griechischen das Wort orthotomoûnta. Dieses setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, die „gerade“ (ortho) und „schneiden“ (toméō) bedeuten. Ein Autor erklärt die Bedeutung dieses Wortes wie folgt:
Als gelernter Zeltmacher benutzte Paulus wohl einen Ausdruck, der mit seinem Gewerbe verbunden war. Als Zeltmacher verwendete er bestimmte Schnittmuster. Zu jener Zeit machte man Zelte aus Tierhäuten, die in einer Art Patchwork-Design zusammengenäht wurden. Jedes Einzelteil musste genau zugeschnitten werden, damit alles zueinander passte. Paulus sagt damit schlicht: „Wenn jemand die Einzelteile nicht richtig zuschneidet, wird das Ganze nicht richtig zusammenpassen.“ Genauso ist es mit der Schrift: Wenn jemand ihre Einzelteile nicht richtig auslegt, wird die Gesamtbotschaft nicht richtig durchdringen. Bei Studium und Auslegung der Bibel muss der Christ sie gerade schneiden. Er muss genau … und sorgfältig vorgehen. – John F. MacArthur, The Charismatics S. 57
Die Auslegung der Bibel ist unerlässlich für ihre Anwendung
Auslegung muss auf Beobachtung aufbauen und dann zur Anwendung führen. Sie ist ein Mittel zum Zweck und besteht nicht zum Selbstzweck.
Das Ziel des Bibelstudiums ist nicht, lediglich festzustellen, was die Bibel sagt und bedeutet, sondern die gewonnenen Erkenntnisse im eigenen Leben anzuwenden.
Wenn wir die Schrift nicht anwenden, verkürzen wir den gesamten Prozess und tun nicht das, was Gott von uns verlangt.
Die Bibel nennt uns viele Dinge, die wir über Gott, uns selbst, Sünde, Errettung und die Zukunft wissen müssen. Wir schlagen die Bibel auf, um Informationen und Erkenntnisse zu erlangen.
Die Frage lautet jedoch: Was sollen wir mit diesen Informationen und Erkenntnissen anfangen? Die Auslegung führt uns vom Lesen und Beobachten des Textes dahin, ihn anzuwenden und im Lebenswandel umzusetzen. Bibelstudium ist eine geistige Anstrengung, bei der wir versuchen zu verstehen, was Gott sagt. Doch muss das Bibelstudium darüber hinaus auch geistliche Disziplin umfassen, durch die wir das in die Praxis umzusetzen versuchen, was wir gelesen und verstanden haben.
Das wahre Ziel des Bibelstudiums ist, sich etwas von Herzen anzueignen, statt bloßes Kopfwissen aufzuhäufen. Nur so können Gläubige geistlich wachsen. Geistliche Reife, durch die wir Christus ähnlicher werden, rührt nicht allein daher, dass wir mehr über die Bibel wissen, sondern daher, dass wir mehr über die Bibel wissen und auf unsere geistlichen Bedürfnisse anwenden.
Paulus hatte zum Ziel, andere zu ermutigen und zu lehren, sodass sie reif in Christus würden (Kol 1,28). Petrus schreibt: „Verlangt, gleichsam als neugeborene Kinder, nach der unverfälschten, geistigen Milch, damit ihr durch sie heranwachst und das Heil erlangt“ (1Petr 2,2 ZÜR). Paulus schreibt: „Die Erkenntnis bläht auf“ (1Kor 8,1). Jesus sagte den jüdischen Führern seiner Tage: „Ihr erforscht die Schriften …“ (Joh 5,39); dann aber fügte er hinzu, dass ihr Studium wertlos sei, weil sie nicht zu ihm kommen wollten, um das Leben zu haben (V. 40).
Eine der klassischen Belegstellen für die Inspiration der Schrift ist 2. Timotheus 3,16. Und doch spricht dieser Vers zusammen mit dem folgenden hauptsächlich vom Nutzen der Schrift. Sie ist „nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet.“
Es ist eine Sache, beim Lesen von 2. Timotheus 1,9 festzustellen, dass Gott uns „zu einem heiligen Leben berufen hat“ (nach der engl. NIV) und zu verstehen, dass Heiligung ein Leben in Reinheit und Gottesfurcht ist, was überhaupt nur durch das heiligende Werk des Heiligen Geistes möglich ist. Es ist aber etwas ganz Anderes, im Alltag gegen die Sünde anzukämpfen, sodass wir tatsächlich ein heiliges Leben führen. Es ist eine Sache, zu erforschen, was die Schrift über die Wiederkunft Christi sagt (bspw. 1Thes 4,13–18 und 1Kor 15,51–56). Es ist jedoch etwas ganz Anderes, darauf aufbauend von der reinen Sachebene dahin fortzuschreiten, Christi Erscheinung zu lieben (2Tim 4,8) – somit seine Wiederkunft mit Sehnsucht zu erwarten und weiterhin standhaft dem Herrn zu dienen (1Kor 15,58).
Die Auslegung der Schrift ist somit als zweiter Schritt des Bibelstudiums absolut unverzichtbar. Die Auslegung ist die Grundlage der Anwendung. Wenn wir die Bibel nicht angemessen auslegen, werden wir dahin kommen, sie falsch anzuwenden. Wie wir die Bibel auslegen, hat an vielen Stellen direkte Auswirkungen auf unseren Lebenswandel sowie auch auf den Lebenswandel anderer. Wenn zum Beispiel ein Pastor bestimmte Bibelstellen so deutet, dass Wiederheirat nach einer Scheidung möglich sei, dann hat das Auswirkungen darauf, wozu er als Seelsorger Geschiedenen in Sachen Wiederheirat raten wird. Wenn ein Pastor 1. Korinther 11,3–15 so versteht, dass Frauen in der Kirche einen Hut tragen sollen, dann hat seine Auslegung Auswirkungen darauf, was er seine Gemeinde lehrt.
Ob Abtreibung richtig ist oder nicht, wie man Gottes Willen erkennen kann, wie man sinnvoll lebt, wie man ein guter Ehemann beziehungsweise eine gute Ehefrau ist oder gute Eltern, wie man auf Leid reagiert: All dies ist von Hermeneutik abhängig und steht mit Hermeneutik in Beziehung und damit, wie man verschiedene Stellen auslegt. Ein Autor bringt es auf den Punkt:
„Die Auslegung der Bibel ist eine der wichtigsten Aufgaben, die sich heutigen Christen stellt. Sie steht hinter dem, was wir glauben, wie wir wandeln, wie wir miteinander auskommen und was wir der Welt zu bieten haben.“ – John Balchin, Understanding Scripture S.8
Die Herausforderung der Schriftauslegung
Wir sind also verantwortlich, nach der Erkenntnis der Wahrheit zu suchen, die in Gottes Wort zu finden ist. Dies ist ausschlaggebend für unser geistliches Leben und für die Wirksamkeit unseres Dienstes an anderen. Wenn wir das Wort Gottes weitergeben – sei es im Seelsorgegespräch, beim Unterrichten einer Sonntagsschulklasse oder Bibelstudiengruppe, sei es beim Predigen: Die dabei vermittelte Erkenntnis, die auf unserem Verständnis der Schrift gründet, wird andere unausweichlich beeinflussen. Ihr Leben ist in unserer Hand.
Ohne sachgerechte Schriftauslegung wird die Theologie eines Einzelnen oder einer ganzen Gemeinde irregehen oder oberflächlich werden; ihr geistlicher Dienst wird einseitig.
Die Bibel zu verstehen ist ein lebenslanger Prozess. Wenn man die Schrift studiert, fragt man sich: Was bedeutet das? Ist diese Ansicht richtig? Warum? Warum nicht? Was ist mit dieser Auslegung? Stimmt sie? Wenn wir Predigten hören oder unseren Lehrern zuhören, werden wir immer wieder vor die Frage gestellt: Ist das, was er über die Bibel sagt, richtig? Wenn wir mit anderen über die Bibel diskutieren, begegnet uns die Frage: Welche der verschiedenen möglichen Ansichten ist wohl am wahrscheinlichsten die Bedeutung der betreffenden Stelle?
Die tatsächliche Bedeutung einer Stelle festzustellen, ist eine faszinierende geistige und geistliche Herausforderung. Wenn wir das Wort Gottes weitergeben, wird man uns fragen: „Was bedeutet dieser Vers? Wie müssen wir diese Stelle verstehen?“ Weil die Bibel derart umfangreich und gehaltvoll ist, und sie eine Vielzahl literarischer Formen enthält, ist die Hermeneutik ein Arbeitsgebiet mit zahlreichen Problemen und Fragen.
Wie zum Beispiel erkennen wir, ob eine Stelle nur den ursprünglichen Adressaten galt oder ob sie auch für nachfolgende Generationen bestimmt ist? Kann eine Stelle mehr als nur eine Bedeutung haben, und wenn ja, wie sind diese zu ermitteln? Schrieben einige Verfasser der Bibel mehr nieder, als sie verstanden? Ist die Bibel mehr als nur ein menschliches Buch? Wenn sie auch ein göttliches Buch ist, wie wirkt sich das auf unsere Auslegung verschiedener Stellen aus? Wie müssen wir die zahlreichen Sprichwörter in der Bibel auslegen? Sind sie allgemeingültig? Wenn wir glauben, die Schrift wörtlich auslegen zu müssen, was bedeutet das in Bezug auf literarische Stilfiguren? Wenn die Bibel literarische Stilfiguren enthält, ist dann die ganze Schrift „geistlich“ oder in einem mystischen Sinn zu deuten? Wie verstehen wir Prophetie? Wie können wir wissen, wie biblische Prophetie interpretiert werden muss, wenn es dazu unterschiedliche Ansichten gibt? Warum zitiert das Neue Testament das Alte Testament auf eine Weise, die scheinbar den Sinn der alttestamentlichen Verse abändert? Wie kommen wir von der Auslegung zur Anwendung?
Probleme der Schriftauslegung
Einer der Hauptgründe dafür, warum die Bibel schwer zu verstehen ist, ist der, dass sie ein sehr altes Buch ist. Die ersten fünf Bücher des Alten Testaments wurden von Mose um 1 400 v. Chr. verfasst. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung, wurde vom Apostel Johannes um das Jahr 90 n. Chr. geschrieben. Manche der Bücher wurden also vor rund 3 400 Jahren verfasst und das letzte vor etwa 1 900 Jahren. Dies legt nahe, dass wir in der Hermeneutik versuchen müssen, zahlreiche Klüfte zu überbrücken, welche schon allein dadurch entstehen, dass wir ein so altes Buch in Händen halten.
Die zeitliche Kluft: Chronologie
Der große Zeitabstand führt zu einer gewaltigen Kluft zwischen uns und den Verfassern und ursprünglichen Lesern der Bibel. Wir waren damals nicht dabei und können nicht mit den Verfassern und den ursprünglichen Lesern sprechen, um aus erster Hand zu erfahren, was die Bedeutung dessen ist, was jene schrieben.
Die räumliche Kluft: Geographie
Die meisten heutigen Bibelleser leben Tausende Kilometer von den Ländern entfernt, in denen die biblischen Ereignisse stattfanden. Der nahe Osten, Ägypten und die am Mittelmeer gelegenen Länder Europas waren die Orte, in denen die Menschen der Bibel lebten und durch die sie reisten. Es ist ein Gebiet, das sich von Babylon im heutigen Irak bis nach Rom (und womöglich bis nach Spanien, falls Paulus dorthin gereist sein sollte) spannt. Dieser räumliche Abstand stellt für uns einen Nachteil dar.
Die kulturelle Kluft: Sitten und Gebräuche
Zwischen dem Denken und Handeln der heutigen Menschen im Westen und dem Denken und Handeln der Menschen biblischer Zeiten und Länder bestehen große Unterschiede. Darum ist es wichtig, Sitten und Kultur der Menschen biblischer Zeiten zu kennen. Häufig rühren Fehldeutungen von Unkenntnis der damaligen Sitten her.
Die sprachliche Kluft: Linguistik
Neben dem zeitlichen, räumlichen und kulturellen Abstand gibt es auch eine Kluft zwischen unseren Sprech- und Schreibgewohnheiten und denen der Menschen biblischer Zeiten. Die Sprachen, in denen die Bibel verfasst wurde (Hebräisch, Aramäisch und Griechisch) haben Eigenheiten, die dem Deutschen unbekannt sind. Zum Beispiel enthielten die hebräischen und aramäischen Original-Handschriften des Alten Testaments nur Konsonanten. Man wusste, welche Vokale dazugehörten, und schrieb sie deshalb nicht auf (wenngleich die Masoreten sie Jahrhunderte später, um 900 n. Chr., dem Text beifügten). Außerdem liest man Hebräisch und Aramäisch von rechts nach links statt von links nach rechts. Dazu kommt, dass es keine Wortzwischenräume gibt; in allen drei biblischen Sprachen gehen die Wörter ineinander über. Ein Beispiel dazu in deutscher Sprache wäre: DNHNDLMRMGZ. Ein Hebräer, der diesen Text von rechts nach links liest, würde automatisch erfassen, dass er vier Worte enthält, die auf Deutsch lauten würden: ZG MR ML DN HND. Es ist nicht allzu schwer festzustellen, dass der Satz lautet: „Zeig mir mal deine Hand.“ Andererseits könnte man die Buchstaben DNHND auch ebenso gut als „den Hund“ oder „dein Handy“ verstehen. Wie soll der Leser erkennen, welches Wort gemeint ist? Gewöhnlich liefert ihm der Kontext den Schlüssel dazu. Wenn in den vorangehenden oder folgenden Sätzen von einer Hand die Rede ist, dann spricht aller Wahrscheinlichkeit nach auch dieser Satz von einer Hand. In seltenen Fällen jedoch gibt uns der Kontext keinen Hinweis. Dann entsteht bei der Auslegung die Schwierigkeit herauszufinden, welches Wort nun tatsächlich gemeint ist.
Ein weiteres Problem des sprachlichen Abstandes sind seltene oder unklaren Ausdrücke der biblischen Originalsprachen. Auch kommen manche Wörter nur einmal in der ganzen Bibel vor; dies macht es unmöglich, zur Klärung der Bedeutung ihren Gebrauch in einem anderen Kontext zu untersuchen.
Zu dem Problem des sprachlichen Abstands trägt auch die handschriftliche Überlieferung der Originalmanuskripte bei. Bei der Abschrift der Manuskripte haben sich gelegentlich Abschreibfehler eingeschlichen. Manchmal las ein Schreiber das Manuskript einem anderen Schreiber vor. Dieser schrieb dann auf, was so klang wie das Wort, das der Vorleser diktiert hatte. Zum Beispiel könnten die Worte „Das ist eine Lärche” auch als „Das ist eine Lerche” geschrieben werden. Manchmal verwechselte ein Kopist einen Buchstaben mit einem anderen. So ähneln sich etwa die hebräischen Buchstaben für die Laute d und r (wenngleich sie nicht identisch sind) wie auch die für w und j. Manchmal wurde ein Wort irrtümlich wiederholt, teilweise auch ausgelassen. Wenn ein Manuskript einige dieser unabsichtlichen Schreibfehler enthielt, konnte es sein, dass der nächste Kopist sie übernahm und diese Lesarten so vielleicht über mehrere Generationen von Manuskripten weitergegeben wurden. Manchmal jedoch „korrigierte“ ein Schreiber etwas, was er für einen falschen Buchstaben oder ein falsches Wort hielt. Das Verfahren, mit dem man herauszufinden versucht, welche Lesarten das Original wiedergeben, nennt man Textkritik. Diese textlichen Varianten berühren jedoch weder eine Hauptlehre der Schrift noch stellen sie die Lehre der Irrtumslosigkeit der Schrift infrage, die sich auf die Originalmanuskripte bezieht, nicht auf die Abschriften.
Die literarische Kluft: Schreibstile
Zu biblischen Zeiten bediente man sich verschiedener Schreibstile und Ausdrucksweisen, die sich von denen unserer westlichen Welt heute unterscheiden. Wir sprechen selten in Sprichwörtern oder Gleichnissen, doch ein beträchtlicher Teil der Bibel ist voll davon. Außerdem haben schätzungsweise vierzig verschiedene Menschen die Bibel verfasst, was Bibelausleger manchmal vor Probleme stellt. So gibt der Verfasser eines Evangeliums beispielsweise an, dass an Jesu leerem Grab ein Engel zugegen war, während der Verfasser eines anderen Evangeliums von zwei Engeln spricht. Auch die häufig verwendete Bildsprache stellt uns manchmal vor Verständnisprobleme. Jesus sagte beispielsweise: „Ich bin die Tür“ und „Ich bin der gute Hirte.“ Offensichtlich hat er weder gemeint, dass er buchstäblich aus Holz gemacht ist und Scharniere hat, noch, dass er tatsächlich eine Schafherde besitzt, die er auf dem Feld weidet. Es ist die Aufgabe des Auslegers sicherzustellen, was Jesus mit diesen Aussagen gemeint hat.
Die geistliche (übernatürliche) Kluft
Es ist ebenfalls wichtig zu beachten, dass zwischen dem Handeln Gottes und unserem Handeln eine Kluft besteht. Die Tatsache, dass die Bibel von Gott handelt, macht sie einzigartig. Gott ist unendlich und das Endliche kann ihn nicht vollumfänglich erfassen. Die Bibel spricht davon, dass Gott Wunder tut und Voraussagen über die Zukunft trifft. Sie lehrt auch schwer verständliche Wahrheiten wie die Dreieinigkeit, die zwei Naturen Christi, die Souveränität Gottes und den menschlichen Willen. All dies und noch weiteres trägt dazu bei, dass es schwierig ist, voll und ganz zu erfassen, was in der Bibel steht.
Da Gott der göttliche Verfasser der Bibel ist, ist sie vollkommen einzigartig. Es gibt nur ein einziges Buch dieser Art. Die Bibel ist nicht einfach ein Buch, in dem man menschliche Gedanken über Gott findet, obwohl sie auch solche enthält. Sie sagt uns auch, was Gott über sich und den Menschen denkt. Die Bibel berichtet davon, was Gott getan hat, und vermittelt, wer er ist und was er verlangt. Die Bibel ist auch insofern einzigartig, als sie von Gott und von Menschen zugleich geschrieben wurde. Menschliche Verfasser schrieben, während sie durch den Heiligen Geist geleitet wurden (2 Petr 1,21). Diese doppelte Verfasserschaft stellt uns vor Probleme. Wie konnte Gott Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten nutzen, um die Schrift zu verfassen, und wie konnte das Endergebnis davon zugleich das Werk des Heiligen Geistes sein? Welche Auswirkungen hat dies auf die Persönlichkeit und den Schreibstil des jeweiligen Autors?
Wenn wir versuchen, die Bibel zu verstehen, dann stellen uns diese sechs Klüfte vor ernsthafte Probleme. Auch der Äthiopier in Apostelgeschichte 8 begegnete einigen davon, einschließlich der zeitlichen, räumlichen, sprachlichen und geistlichen Kluft. Zwar ist vieles in der Bibel offensichtlich und leicht zu verstehen, doch einige Teile sind in der Tat schwieriger. Selbst Petrus schrieb: „… wie auch unser geliebter Bruder Paulus … geschrieben hat, [wovon] einiges schwer zu verstehen [ist]“ (2Petr 3,15–16). Manche Bibelverse bleiben selbst für die fähigsten Exegeten ein Geheimnis.
Kann man die Bibel trotzdem verstehen?
Wenn die Schrift klar ist, warum redet man dann überhaupt noch von Auslegung? Wie schon erwähnt, sind manche Bibelstellen schwer zu verstehen. Und doch ist die grundlegende Botschaft der Bibel einfach genug, dass jedermann sie erfassen kann. Die Schrift ist nicht an sich unklar. Ihre Lehren sind nicht, wie manche meinen, dem Durchschnittsmenschen unzugänglich. Ebenso wenig wurde die Bibel als Orakelbuch verfasst, das voller unverständlicher Geheimnisse und Rätsel steckt. Da die Bibel ein Buch ist, wurde sie dazu gegeben, gelesen und verstanden zu werden. Als Gottes schriftliche Offenbarung offenbart die Bibel uns Gottes Wesen, Pläne und Maßstäbe. Ihre menschlichen Verfasser, deren Schriften unter der Inspiration des Heiligen Geistes zustande kamen, schrieben, um verstanden zu werden, nicht um zu verwirren. Wie Martin Luther betonte, bedeutet das Priestertum aller Gläubigen (1Petr 2,5), dass die Bibel allen Christen zugänglich und verständlich ist. Damit widersprach er der vermeintlichen Unklarheit der Schrift, wie sie die römisch-katholische Kirche lehrt, wonach nur das kirchliche Lehramt die Bedeutung der Bibel offenlegen könne.
Dennoch gibt es Dinge, die die Kommunikation behindern. Was dem Schreiber klar war, mag dem Leser nicht unbedingt sofort klar sein. Auslegung ist nötig, um alles aus dem Weg zu räumen, was der Kommunikation und dem Verständnis der Schrift im Weg steht. Exegese und Auslegung sind somit nötig, um dazu beizutragen, die Klarheit aufzudecken, welche die Schrift in sich selbst hat. Als göttliches Buch, durch das Gott zu den Menschen spricht, ist seine Botschaft grundsätzlich klar; und doch besitzt es als Gottes Wort eine Tiefe, die selbst die sorgfältigsten Gelehrten vor Herausforderungen stellt.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Grundlagen der Schriftauslegung“ von Roy B. Zuck.