Immer wieder begegnet man heute dem Vorurteil, die Römisch Katholische Kirche zu Luthers Zeiten sei wesentlich „strenger“, verkrusteter und im polemischen Sinne „katholischer“ gewesen. Der historische Befund weist in die entgegengesetzte Richtung.
Die von Luther gestellten Fragen und im Interesse der Verkündigung erhobenen Bitten beantwortet das päpstliche Konzil mit einem entschiedenen Nein. Reformatorisches Formalprinzip und Materialprinzip werden ausdrücklich zu Häresien erklärt, woran sich – trotz aller inzwischen milderen Rhetorik – bis heute in der Sache nichts geändert hat!
Will man die Trienter Lehrentscheidungen der ersten Sitzungsjahre unter einem Motto zusammenfassen, dann ist dies die Bekämpfung der Exklusivpartikel.
Formalprinzip: Kein sola scriptura!
Die „kirchliche Tradition“, wozu auch die „ungeschriebenen Überlieferungen“ zählen, ist „mit dem gleichen Gefühl der Dankbarkeit und der gleichen Ehrfurcht“ anzuerkennen wie die Bibel selbst. Allein der Kirche steht es zu, „über den wahren Sinn und die Auslegung der heiligen Schriften zu urteilen“. Trient bekräftigt, so Kaufmann, „die Superiorität der römischen Kirche gegenüber der Bibel“, was eine weitere Stärkung des Papstamtes impliziert.
Wie offensiv diese Entscheidung bis heute, selbst in der Jugendunterweisung, verbreitet wird, beweist ein aktueller Jugendkatechismus, der die Kirche als letztgültige Instanz der Wahrheit lehrt:
Frage 12: Woher wissen wir, was zum wahren Glauben gehört?
Den wahren Glauben finden wir in der Heiligen Schrift und in der lebendigen Überlieferung der Kirche.Frage 13: Kann sich die Kirche in Glaubensfragen irren?
Die Gesamtheit der Gläubigen kann im Glauben nicht irren …
Wie die Jünger Jesus von ganzem Herzen geglaubt haben, so kann sich ein Christ ganz auf die Kirche verlassen, wenn er nach dem Weg zum Leben fragt. (…) – Youcat Deutsch: Jugendkatechismus der Katholischen Kirche
Hier wird die Autorität der Kirche auf eine Stufe mit der von Jesus Christus selbst gestellt. Deutlicher kann man dem – sola scriptura – kaum widersprechen. Damit ist der Weg frei für eine Rechtfertigung, die sich nicht an den neutestamentlichen Vorgaben allein messen lassen muss.
Materialprinzip: Keine Rechtfertigung sola gratia – sola fide – solus Christus!
Für die Formulierung und Abgrenzung der römisch-katholischen Rechtfertigungslehre nimmt sich das Konzil eine besonders lange, nämlich sechsmonatige, Beratungsphase. Offensichtlich hat man die Gefahr und den apologetischen Klärungsbedarf, welche vom articulus stantis et cadentis ausgehen, erahnt. Umso konsequenter werden nun alle Aspekte dieses Artikels antireformatorisch „wasserdicht“ gemacht. Dies ist ein weiterer Beweis für die argumentative Gründlichkeit, mit der damals beide Seiten für ihre Überzeugung gekämpft haben.
Der Trienter Gegenschlag setzt beim Sündenverständnis an. Nach römisch-katholischer Sicht ist der natürliche Mensch nicht „tot in Sünden“ (vgl. Eph 2,1 f.) und Sünde bedeutet auch nicht „Feindschaft gegen Gott“ (vgl. Röm 5,8). Vielmehr bewirkt sie nur einen Verlust der Urstandsgerechtigkeit, welcher durch die Taufe überwunden wird, die beim Täufling alles hinwegnimmt, „was den eigentlichen Charakter von Sünde besitzt“.
Aufgrund dieses anthropologischen Optimismus hält man auch den (noch) ungetauften Erwachsenen für fähig, an seiner Rechtfertigung mitzuwirken. Das „Dekret über die Rechtfertigung“ (1547) beschreibt einen dreistufigen Heilsweg:
a) Vorbereitung auf die Rechtfertigung: Unterstützt von der vorlaufenden Gnade, gewinnt der Mensch ein anfängliches Gottesvertrauen und nimmt sich vor, „die Taufe zu empfangen, ein neues Leben zu beginnen und die göttlichen Gebote zu beobachten“ (NR 796).
b) Rechtfertigung selbst (als Taufwiedergeburt): Die Rechtfertigung geschieht zunächst als Gottes Werk mittels der Taufe. Dies gilt sowohl beim unmündigen Säugling als auch beim erwachsenen Täufling. In der Taufe wird dem Menschen die – dinglich verstandene – Gnade eingegossen (gratia infusa). Damit bekommt der Täufling „mit dem Nachlass der Sünden all das zugleich eingegossen durch Christus, dem er eingepflanzt wird: Glaube, Hoffnung, Liebe“ (NR 801). Das sind die sog. „Tugenden“, die der Gläubige nun anwenden muss. Die Wirkung von Gottes eingegossener Gnade besteht darin, dass der Getaufte nun befähigt ist, zu glauben, zu hoffen und zu lieben, was ihm sonst nicht möglich wäre.
c) Wachstum der empfangenen Rechtfertigung (NR 805): Nun ist der Mensch gefordert, die dinglich eingegebene Gnade zu nutzen, zu betätigen, indem er mit Hilfe der Tugenden gute Werke vollbringt und am Leben der Kirche teilnimmt. Durch seine guten Werke vermehrt der Mensch die Rechtfertigung, er verdient sich die Vermehrung der Gnade und verdient sich damit auch das ewige Leben. So gelangt der Mensch mit Hilfe der Gnade zu einer Vervollkommnung seiner Natur. Das Erreichen des himmlischen Zieles steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass der Mensch in der Gnade bleibt und mit der Kirche kooperiert. Sollte er durch eine Todsünde seines Heiles verlustig gehen, greift der kirchliche Bußmechanismus: Beichte, Absolution, Eucharistie. Aber auch derjenige, welcher im Zustand der Rechtfertigung stirbt, bedarf möglicherweise – bevor er in den Himmel kommt – der Abbüßung verbliebener „Restschulden“, d. h. zeitlicher Sündenstrafen. Diese Tilgung verbliebener Schulden geschieht im Fegefeuer, das der ewigen Seligkeit vorgeschaltet ist. Um diesen Prozess für sich selbst und in bestimmten Fällen auch für bereits Verstorbene abzukürzen und zu erleichtern, dient der Ablass.
Wie die Römisch Katholische Kirche Gnade versteht
Gnade bedeutet in diesem Konzept nicht die gnädige Zuwendung Gottes, sondern wird als eine Veränderung des menschlichen Zustands selbst verstanden, die dem Menschen eingeflößt wird und als „habituelle Gnade“ an ihm haftet. Dadurch wird der Mensch – gemäß römisch-katholischer Lehre – zur Kooperation mit Gott befähigt. Auf diesem Wege der Kooperation, so Trient ganz explizit, kann und muss der Getaufte sich das ewige Leben verdienen: „Deshalb muß man glauben, es fehle den Gerechtfertigten nichts mehr daran, daß sie durch ihre Werke, die in Gott getan sind, ganz und gar dem göttlichen Gesetz so genuggetan haben, wie es dem Zustand dieses Lebens entspricht, daß sie das ewige Leben zu seiner Zeit zu erreichen wirklich verdienen, wenn sie nur in der Gnade sterben …“ (NR 816). Allerdings sind mit der Rechtfertigung nicht notwendig auch die sogenannten „zeitlichen Strafen“ – Fegefeuerstrafen – abgegolten. Zu deren Abbüßung muss der Christ zwischen Sterben und Eingang in die Herrlichkeit eine gewisse Zeit im Fegefeuer verbringen. Hier greift die Lehre vom Ablass, durch dessen Erwerb mittels religiöser Leistungen die Zeit im Fegefeuer verkürzt werden kann.
Das Konzil sieht und sagt dann mit aller Deutlichkeit, welche reformatorischen Überzeugungen durch dieses System ausgeschlossen und als Irrlehren indiziert sind:
Wer behauptet, die guten Werke des Gerechtfertigten seien in der Weise Geschenke Gottes, daß sie nicht auch die guten Verdienste des Gerechtfertigten selbst sind; oder der Gerechtfertigte verdiene nicht eigentlich durch die guten Werke, die er in der Kraft der göttlichen Gnade und des Verdienstes Christi, dessen Glied er ist, tut, einen Zuwachs an Gnade, das ewige Leben und, wenn er im Gnadenstand hinübergeht, den Eintritt in das ewige Leben, sowie auch nicht eine Mehrung seiner Herrlichkeit, der sei ausgeschlossen. (NR 850)
Wo aber die Werke als Verdienste an der Erlangung des Heils beteiligt sind, muss konsequenterweise die Rettung durch das allein auf Christus gesetzte Vertrauen (sola fide, solus Christus) abgelehnt werden. Das dekretiert der berühmte Lehrsatz 12 in der 6. Sitzung des Trienter Konzils:
Wer behauptet, der rechtfertigende Glaube sei nichts anderes als das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit, die um Christi willen die Sünden nachläßt (vergibt), oder dieses Vertrauen allein sei es, wodurch wir gerechtfertigt werden, der sei ausgeschlossen. (NR 830)
Der Gegensatz zwischen Trienter und Augsburger Konfession könnte nicht klarer beschrieben werden. Zum Vergleich sei hier nochmals an Confessio Augustana IV erinnert: (Augsburger Konfession (Confessio Augustana) ist die erste offizielle Darstellung von Lehre und Praxis der Wittenberger Reformation)
Weiter wird gelehrt, daß wir Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen mögen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sondern daß wir Vergebung der Sünden bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden um Christi willen (propter Christum) durch den Glauben, so wir glauben, daß Christus für uns gelitten hat, und daß uns um seinetwillen die Sünde vergeben und Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt wird. Denn diesen Glauben will Gott für Gerechtigkeit vor ihm halten und zurechnen, wie St. Paulus sagt. (Röm 3 und 4)
In der lateinischen Fassung steht hier das berühmte Wort „gratis“: …gratis iustificentur propter Christum per fidem (umsonst gerechtfertigt wegen Christus durch Glauben).
Was Confessio Augustana IV als Wahrheit lehrt, muss Trient als Häresie ausschließen, und umgekehrt – was Trient als rechte Lehre fordert, muss CA IV als ein anderes Evangelium ablehnen. Kaufmann bilanziert den Vergleich der Systeme: „Die exklusive reformatorische Begründung des Heils allein im Glauben (sola fide) stellt eine für die römische Sakralinstitution nicht akzeptable Einseitigkeit in der Gottesbeziehung dar, der das Trienter Rechtfertigungsdekret entgegentritt.“
Wo die Rechtfertigung konstituiert wird durch die innere Logik der Exklusivpartikel, was wir für die Reformation zeigen konnten, folgt aus deren Position (der Ausschließlichkeit) unvermeidlich die Konfrontation mit allen inklusiven Konzepten. Trient nimmt die Herausforderung an und setzt dem reformatorischen „Entweder-oder“ sein römisch-katholisches „Sowohl-als auch“ entgegen: sowohl die Schrift als auch die Tradition, sowohl die Gnade als auch das Verdienst, sowohl der Glaube als auch die Kooperation durch Werke, sowohl Christus als auch der kirchliche Vermittlungsapparat. Damit stehen zwei in sich geschlossene Systeme einander nicht nur gegenüber, sondern entgegen.
Was folgt aus diesem Befund für heute?
Das Tridentinum ist nicht nur historische Position oder theologische Momentaufnahme, sondern die aktuell gültige römisch-katholische Lehre. Auch in den jüngeren Katechismen, die verbindlich römisch-katholische Wahrheit definieren, werden die Trienter Festlegungen als unverzichtbare Prämissen bestätigt, die den Katholizismus weltweit festlegen. Dies gilt unbestreitbar auch für das Verständnis der Rechtfertigung, was der Vergleich zwischen dem Trienter Dekret zur Rechtfertigung von 1547 und den Lehrsätzen über Rechtfertigung und Gnade im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK, veröffentlicht 1993) zweifelsfrei belegt.
In der Rechtfertigung entscheidet sich, ob die Kirche (oder jene, die sich dafür halten,) überhaupt das wahre Evangelium hat und überhaupt den echten Glauben predigt. Und zwar Rechtfertigung mit der inhaltlichen Bedeutung, wie Gott sie durch Paulus (im Einklang mit der ganzen Schrift) offenbart hat und wie sie von der Reformation in den wesentlichen Inhalten bibeltreu, dem Literalsinn gemäß, wiederentdeckt und weitergegeben wurde.
Wann ist ein Christ ein Christ? Die Antwort darauf ist die Rechtfertigung. Christ wird jemand, wenn er Jesus Christus als seinen persönlichen Retter von Sünde und Tod im Glauben anruft und sich allein auf das Rettungswerk verlässt, das Jesus für ihn am Kreuz vollbracht hat. Rechtfertigung ist dieser (und kein anderer) Zusammenhang von solus Christus, sola gratia und sola fide. Dann ist ein Christ ein Christ geworden, wenn er zu den Schafen gehört, die sich auf Jesus als ihren guten Hirten verlassen und seiner Stimme vertrauen, die in der Schrift (sola scriptura) zu ihnen redet.
Wer diese Rechtfertigung nicht hat, hat statt des Evangeliums nur „den leeren Namen“ und statt der Predigt des Glaubens „nur eine tote und tötende Formel“. Hier, im Zentrum, trennen sich die Wege von biblischer und römisch-katholischer Rechtfertigung.
Dieser Artikel ist aus dem Buch »Wann ist der Christ ein Christ« von Wolfgang Nestvogel.