Die Barmherzigkeit Gottes – ein tiefer Trost
Heiliger Vater, Deine Weisheit erweckt unser Staunen, Deine Macht erfüllt uns mit Schrecken, Deine Allgegenwart macht jeden Flecken Erde zu einem heiligen Ort. Doch wie können wir Dir nur genug für Deine Barmherzigkeit danken, die uns in tiefster Not widerfährt und uns Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauerkleid und Lobgesang statt eines betrübten Geistes gibt? Wir loben und rühmen Deine Barmherzigkeit durch Jesus Christus, unsern Herrn. Amen.
Wenn wir Kinder des Schattens durch das Blut des ewigen Bundes endlich unsere Heimat droben im Lichte erreichen, werden wir tausend Saiten auf unserer Harfe haben, aber die wohlklingendste wird wohl jene sein, die in Vollkommenheit zum Ruhm der Barmherzigkeit Gottes erklingt!
Denn was für ein Recht haben wir, dort zu sein? Beteiligten wir uns nicht durch unsere Sünden an jener unheiligen Rebellion, durch die der herrliche König der Schöpfung tollkühn vom Thron gestürzt werden sollte? Gingen wir unseren Weg früher nicht nach der Weise der Welt, nach dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk in den Söhnen des Ungehorsams wirkt? Lebten wir einst nicht alle in den Begierden des Fleisches? Waren wir nicht von Natur aus Kinder des Zornes wie die andern?
Aber wir, die wir einst Feinde Gottes und ihm durch böse Werke entfremdet waren, wir werden Gott dann von Angesicht zu Angesicht schauen, und sein Name wird auf unsere Stirne geschrieben sein. Wir hätten Ächtung verdient und werden stattdessen die Freude der Gemeinschaft erleben. Wir hätten die Qualen der Hölle verdient und werden doch die Seligkeit des Himmels erfahren. Dies alles kann nur durch die Barmherzigkeit unseres Gottes geschehen, die die Herrlichkeit aus der Höhe zu uns herabsteigen ließ.
»Wenn meine anbetende Seele, o mein Gott,
Alle Deine Barmherzigkeit erfasst,
Verliere ich mich in Verwunderung, Liebe und Lob.« – Joseph Addison
Die Barmherzigkeit Gottes in der ganzen Schrift
Barmherzigkeit ist eine Eigenschaft Gottes, eine unendliche und unerschöpfliche Kraft der göttlichen Natur, die Gott zu einem teilnehmenden Mitleid bewegt. Sowohl das Alte wie das Neue Testament bezeugen die Barmherzigkeit Gottes; das Alte Testament hat jedoch mehr als viermal soviel darüber zu sagen wie das Neue Testament.
Wir sollten die übliche, jedoch falsche Vorstellung aus unserem Sinn verbannen, Gerechtigkeit und Gericht charakterisierten den Gott Israels und Barmherzigkeit und Gnade den Herrn der Gemeinde, denn in Wirklichkeit besteht prinzipiell kein Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Auch wenn das Neue Testament mehr den Erlösungsplan Gottes entfaltet, so redet Gott doch in beiden Teilen gleich, und was er redet, entspricht dem, was er ist. Wo und wann immer Gott Menschen erscheint, handelt er seinem Wesen gemäß. Ob im Garten Eden oder im Garten Gethsemane – Gott ist sowohl barmherzig als gerecht. Er hat der Menschheit von jeher Barmherzigkeit erwiesen, und er wird seine Gerechtigkeit immer an ihr erweisen, wenn seine Barmherzigkeit ausgeschlagen wird. So tat er es zu vorsintflutlichen Zeiten; so tat er es, als Christus unter den Menschen weilte; so tut er es heute, und so wird er es immer tun, weil er Gott ist.
Die Barmherzigkeit Gottes hört nie auf
Wenn wir nur begreifen könnten, dass die göttliche Barmherzigkeit keine vorübergehende Laune, sondern eine Eigenschaft des unvergänglichen Gottes ist, so würden wir nicht mehr länger befürchten, sie könnte eines Tages zu Ende sein. Barmherzigkeit hat nie angefangen zu sein, sondern besteht von Ewigkeit her. So wird sie auch kein Ende haben. Sie wird nie zunehmen, weil sie in sich selbst schon unendlich ist; und sie wird nie abnehmen, weil das Unendliche keine Verminderung kennt. Nichts, was im Himmel, auf Erden oder in der Hölle geschehen ist oder geschehen wird, kann etwas am gnädigen Erbarmen unseres Gottes ändern. Seine Barmherzigkeit steht ewig fest – eine grenzenlose, überwältigende Unermesslichkeit göttlichen Mitleids.
Gleich wie das Gericht Gottes Gerechtigkeit gegenüber moralischer Ungerechtigkeit ist, so ist Barmherzigkeit die Güte Gottes gegenüber menschlichem Leiden und Verschulden. Gäbe es keine Schuld in der Welt, keinen Schmerz und keine Tränen, wäre Gott dennoch voll unendlichen Erbarmens, wenn auch vielleicht in der Verborgenheit seines Herzens und dem erschaffenen Universum unbekannt. Keine Stimme würde sich dann erheben, um die Barmherzigkeit zu rühmen, der niemand bedürfte. Das Elend und die Sünde des Menschen ist es, was die göttliche Barmherzigkeit auslöst.
„Kyrie eleison! Christe eleison!“ (Herr, erbarme Dich! Christus, erbarme dich!) hat die Kirche Jahrhunderte hindurch gebetet. Aber wenn ich mich nicht täusche, höre ich darin einen Ton von Traurigkeit und Verzweiflung. Ihr klagendes, oftmals in diesem niedergeschlagenen, resignierenden Ton wiederholtes Gebet zwingt einen zur Vermutung, dass sie um einen Segen bittet, den sie in Wirklichkeit gar nicht zu empfangen erwartet. Sie mag weiterhin pflichtgemäß die Größe Gottes besingen und das Glaubensbekenntnis unzählige Male hersagen, aber ihre Bitte um Barmherzigkeit tönt wie eine verlorene Hoffnung – als ob Barmherzigkeit eine himmlische Gabe wäre, nach der man sich wohl sehnt, die man jedoch nie richtig erfährt.
Ist diese Unfähigkeit, die echte, bewusst erlebte Freude der Barmherzigkeit zu erfassen, das Resultat unseres Unglaubens oder unserer Unwissenheit oder beider zusammen? Das war einst in Israel der Fall. „Denn ich gebe ihnen Zeugnis“, sagte Paulus über Israel, „dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht nach der rechten Erkenntnis“ (Römer 10,2). Sie versagten, weil es zumindest eine Sache gab, die sie nicht wussten, eine Sache, die den ganzen Unterschied ausgemacht hätte. Über die Israeliten in der Wüste heißt es im Hebräerbrief:
»Aber das Wort der Verkündigung hat jenen nicht geholfen, weil es bei den Hörern nicht mit dem Glauben verbunden war.« (Hebräer 4,2)
Der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes
Um Barmherzigkeit erlangen zu können, müssen wir zuerst wissen, dass Gott barmherzig ist. Es genügt nicht zu glauben, dass er sich einst über Noah oder Abraham oder David erbarmte und dass er irgendwann einmal in der Zukunft seine Barmherzigkeit wieder zeigen wird. Wir müssen glauben, dass Gottes Barmherzigkeit grenzenlos und frei ist, und dass sie uns durch unsern Herrn Jesus Christus jetzt, in unserer gegenwärtigen Lage, zugänglich ist.
Wir können ein Leben lang ungläubig um Barmherzigkeit bitten und am Ende unserer Tage trotzdem nur die schwache Hoffnung haben, sie irgendwo und irgendwann einmal zu empfangen. Das hieße verhungern, während nebenan der Festsaal ist, den wir trotz freundlicher Einladung nicht betreten haben. Wir können aber auch, wenn wir wollen, im Glauben die Barmherzigkeit Gottes erfassen, in den Festsaal eintreten und uns mit verlangenden Seelen, die sich nicht durch Schüchternheit und Unglauben vom Fest und den für sie bereiteten guten Dingen abhalten ließen, niedersetzen.
»Steh auf, meine Seele, steh auf;
Schüttle Deine schuldbeladenen Ängste ab;
Das um meinetwillen blutende Opfer erscheint;
Vor dem Thron steht, der für mich bürgt.
Mein Name steht in Seinen Händen geschrieben.Mein Gott ist versöhnt;
Ich höre Seine vergebende Stimme;
Er bekennt sich zu mir als zu Seinem Kind;
Ich brauche mich nicht länger zu fürchten;
In Zuversicht darf ich mich nahen;
Und ich rufe: ‚Abba, lieber Vater!’« – Charles Wesley
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch »Das Wesen Gottes« (Kapitel 18) von A. W. Tozer.