Die ewige Existenz des Sohnes Gottes
Die ewige Existenz der zweiten Person weckt eine Frage hinsichtlich der Beziehung, die er innerhalb der Gottheit hatte. Als die zweite Person der Trinität (o. »das Wort«, wie Johannes 1,1 von ihm redet) existierte er von Ewigkeit her. Aber existierte er vor der Zeit immer als Sohn? Zwei Hauptansichten haben sich entwickelt: Ewige Sohnschaft oder Sohnschaft durch Inkarnation [Engl. ›incarnational sonship‹].
Hebräer 1,5 spricht auf den ersten Blick anscheinend von der Zeugung des Sohnes durch den Vater als einem in der Zeit geschehenden Ereignis:
»›Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt‹« und: »›Ich will ihm zum Vater, und er soll mir zum Sohn sein.‹«
Dieser Vers stellt uns äußerst schwierige Konzepte vor Augen. Zeugung spricht normalerweise vom Ursprung einer Person. Außerdem sind Söhne im Allgemeinen ihren Vätern untergeordnet. Deshalb spricht der Text anscheinend von etwas, das unvereinbar ist mit einer ewigen Vater-Sohn-Beziehung, die verlangt, dass die Personen der Trinität untereinander vollkommene Gleichheit und ewige Existenz besitzen. Die Vertreter der Sohnschaft durch Inkarnation schließen, dass Sohnschaft den Platz der freiwilligen Unterordnung bedeutet, zu dem sich Christus bei seiner Inkarnation herabließ (siehe Joh 5,18; Phil 2,5–8).
Ewige Sohnschaft
Die Sichtweise der ewigen Sohnschaft ruht auf der Beobachtung, dass der Titel Sohn Gottes, wenn er auf Christus in der Schrift angewandt wird, offensichtlich stets von seiner wesenhaften Gottheit und absoluten Gleichheit mit Gott spricht und nicht von seiner freiwilligen Unterordnung. Die jüdischen Leiter zur Zeit Jesu verstanden dies. Johannes 5,18 sagt, dass sie Jesus töten wollten, da sie ihn der Gotteslästerung bezichtigten, »weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen eigenen Vater nannte, sich selbst Gott gleich machend.« In jener Kultur wurde der erwachsene Sohn eines Würdenträgers seinem Vater in Position und Privileg gleichgeachtet. Die gleiche Ehrerbietung, die ein König einforderte, wurde auch seinem erwachsenen Sohn entgegengebracht. Der Sohn war schließlich von gleichem Wesen wie sein Vater, Erbe aller Rechte und Privilegien des Vaters – und deshalb gleich in jeder wichtigen Beziehung.
Wenn also Jesus »Sohn Gottes« genannt wurde, dann wurde das von allen kategorisch als Bezeichnung seiner Gottheit verstanden, denn dies deklarierte ihn als gleich mit Gott und (noch bedeutender) als gleichen Wesens mit dem Vater. Das ist genau der Grund, weshalb die Leiter der Juden die Bezeichnung Sohn Gottes als höchste Gotteslästerung ansahen.
Die ewige Zeugung Jesu
Wenn der Titel »Sohn« für die Gottheit und absolute Gleichheit Jesu mit dem Vater steht, dann kann es kein Titel sein, der lediglich mit seiner Inkarnation zu tun hat. Es ist vielmehr so: Der Kern dessen, was mit Sohnschaft gemeint ist (und dies schließt ohne Frage Jesu göttliches Wesen mit ein), muss zu den ewigen Eigenschaften Christi gehören, nicht nur zu seinem Menschsein.
Die Zeugung, von der in Psalm 2 und Hebräer 1 gesprochen wird, ist nicht ein Ereignis, das in der Zeit stattfindet. Wenn auch die Schrift auf den ersten Blick einen Ausdruck verwendet, der sonst einen Zeitpunkt bezeichnet (»heute habe ich dich gezeugt«), so spricht doch der Kontext von Psalm 2,7 ohne Frage vom ewigen »Ratschluss« Gottes. Die Schlussfolgerung ist vernünftig, dass die Zeugung, von der Psalm 2 spricht, ebenfalls etwas ist, das mit der Ewigkeit zu tun hat und nicht mit einem bestimmten Zeitpunkt. Der Ausdruck sollte deshalb figurativ und nicht buchstäblich verstanden werden.
Die orthodoxen Theologen seit dem Ersten Konzil von Konstantinopel (381) haben das erkannt. Wenn sie von der Sohnschaft Christi sprechen, verwenden sie den Begriff ewige Zeugung, ein zugegeben schwieriger Ausdruck. Nach Spurgeon ist es »ein Begriff, der uns keinerlei große Bedeutung vermittelt; er deckt allein unsere Unwissenheit zu.« Doch das Konzept selbst ist biblisch. Die Schrift bezieht sich auf Christus als den »eingeborenen Sohn vom Vater« (Joh 1,14; siehe auch 1,18; 3,16.18). Das mit »der eingeborene Sohn« übersetzte griechische Wort ist monogenḗs (»der eingeborene [= einzige] Sohn«, MENG1939; »der Eingeborene [Fn.: d.h. einzig in seiner Art; o. einzig geboren; o. einzig]«, ELB2006). Seine Kernbedeutung hat mit Christi Einzigartigkeit zu tun. Wörtlich kann es übersetzt werden mit »einzig in seiner Art; Unikat« – und dennoch bedeutet es ebenso eindeutig, dass er völlig gleichen Wesens mit dem Vater ist.
Während also monogenḗs nicht ausdrücklich Zeugung besagt, hängt es doch zusammen mit dem biblischen Konzept (vgl. Ps 2,7; Joh 5,26), denn es ist gerade seine ewige Zeugung, die Christus zum einzigartigen Sohn des Vaters macht.
Was bedeutet es, dass Christus »gezeugt« wurde?
Zu sagen, Christus sei »gezeugt«, ist für sich selbst ein schwieriges Konzept. Innerhalb des Bereichs der Schöpfung spricht der Ausdruck gezeugt vom Ursprung eines Nachkommens. Das Zeugen eines Sohnes bedeutet eine Empfängnis – der Punkt, an dem seine Existenz beginnt. Einige nehmen deshalb an, dass »eingeboren« sich auf die Empfängnis des Menschen Jesus im Mutterleib der Jungfrau Maria bezieht. Aber Matthäus 1,20 schreibt die Empfängnis des inkarnierten Christus dem Heiligen Geist zu, nicht Gott dem Vater. Die in Psalm 2,7 und in Johannes 1,14 angesprochene Zeugung bezieht sich auf etwas Größeres als die Empfängnis des Menschen Christus im Leib Marias.
Es gibt nämlich eine wichtigere Bedeutung des Konzepts der Zeugung als lediglich Ursprung von jemandes Nachkommen. Nach dem Plan Gottes zeugt jedes Geschöpf Nachkommen »nach seiner Art« (1Mo 1,11–12.21–25). Die Nachkommen sind das exakte Ebenbild der Eltern. Die Tatsache, dass ein Sohn vom Vater gezeugt wird, garantiert, dass der Sohn mit dem Vater das gleiche Wesen teilt. Christus ist in seiner Gottheit jedoch kein geschaffenes Wesen (Joh 1,1–3). Er hatte keinen Anfang, sondern ist so ewig wie Gott selbst.
Deshalb hat das »Zeugen«, von dem in Psalm 2 und in den Parallelstellen die Rede ist, nichts mit dem Ursprung seiner Gottheit noch dem seines Menschseins zu tun. Es geht vielmehr darum, dass er mit dem Vater das gleiche Wesen teilt. Ausdrücke wie »ewige Zeugung«, »eingeborener Sohn« und andere, die sich auf die Sohnschaft Christi beziehen, müssen alle so verstanden werden, dass sie das absolute Einssein im Wesen zwischen dem Vater und dem Sohn unterstreichen. Mit anderen Worten, solche Ausdrücke, die Vorstellung von Nachkommenschaft wecken, wollen vielmehr die Wahrheit über das wesenhafte Einssein der Personen der Trinität bezeugen.
Sohnschaft durch Inkarnation
Die Sicht, dass Christus durch seine Fleischwerdung (Inkarnation) Sohn geworden sei, geht davon aus, dass die Schrift von der Beziehung Vater-Sohn im anthropomorphen Sinn spricht, d. h. sie passe unfassbare himmlische Wahrheiten unserem begrenzten Denken an, indem sie sie in menschliche Begriffe gieße. Aber menschliche Vater-Sohn-Beziehungen sind nur irdische Bilder einer unendlich größeren himmlischen Realität. In der Sichtweise der ewigen Sohnschaft existiert das Urbild jeder Vater-Sohn-Beziehung in der ewigen Dreieinheit Gottes. Alle anderen sind lediglich irdische, und zwar unvollkommene, Nachbildungen, weil sie an die Begrenztheit des Menschengeschlechts gebunden sind und doch eine ewige Realität illustrieren.
Wenn es bei der Sohnschaft Christi ganz um seine Gottheit geht, dann kann man sich fragen, warum diese Sohnschaft nur für die zweite Person der Gottheit gilt und nicht auch für die dritte. Denn schließlich nennen wir Christen den Heiligen Geist nicht Gottes Sohn. Und dennoch ist auch der Heilige Geist gleichen Wesens wie der Vater. Das volle, unvermischte und ungeteilte Wesen Gottes teilen Vater, Sohn und Heiliger Geist gleichermaßen. Gott hat nur ein Wesen, aber er existiert in drei Personen. Die Haupteigenschaften, die die Personen unterscheiden, sind in den Eigenschaften zusammengefasst, die durch die Namen Vater, Sohn und Heiliger Geist verdeutlicht werden. Die Theologen haben diese Eigenschaften mit Vaterschaft (lat. paternitas), Sohnschaft (lat. filiatio) und Hauchung (lat. spiratio) benannt.
Dass solche Unterscheidungen für unser Verständnis der Trinität entscheidend wichtig sind, geht aus der Schrift klar hervor. Wie sie vollständig zu erklären sind, bleibt stets ein gewisses Geheimnis. Viele Aspekte dieser Wahrheiten bleiben vielleicht für immer rätselhaft, aber dieses grundlegende Verständnis der ewigen Beziehungen innerhalb der Trinität repräsentiert nichtsdestoweniger den bestmöglichen Konsens unter den Christen über die Jahrhunderte der Kirchengeschichte hinweg. Die Lehren von Christi ewiger Sohnschaft und ewiger Zeugung sollten deshalb nachdrücklich vertreten werden, wenn wir sie auch als Geheimnisse anerkennen müssen, in die wir nicht allzu tief hineinspähen können.
»Dies ist mein geliebter Sohn […]«
Die Vertreter der Sohnschaft durch Menschwerdung argumentieren für ihre Position entweder aufgrund der göttlichen Deklarationen über den Sohn bei seiner Geburt (Mk 1,1; Lk 1,32.35), seiner Taufe (Mt 3,17) oder seiner Verklärung (Mt 17,5) oder auch aufgrund der apostolischen Deklaration über seine Auferstehung (Apg 13,30–33; Röm 1,4).
Vor dem Hintergrund der oben präsentierten Argumente gegen diese Sicht der Sohnschaft, drücken die göttlichen Deklarationen bei seiner Taufe und seiner Verklärung lediglich die Zustimmung und Bestätigung des Vaters aus. Sie reden nicht von einer anfänglichen Einsetzung der zweiten Person der Gottheit in die Stellung und Rolle als Sohn.
Die Aussage in Lukas 1,35 könnte – betrachtet im Licht von Lukas 3,38 – die Identifikation Jesu als letzten Adam bedeuten. Die Texte, die seine Sohnschaft im Kontext oder in Verbindung mit der Auferstehung erwähnen, sagen nicht, dass seine Auferstehung ihn zum Sohn Gottes »gemacht« hätte. Vielmehr offenbarte die Auferstehung auf machtvolle Art und Weise, dass er der Sohn Gottes war, nicht ein bloßer Mensch. Außerdem war sie ein Zeugnis, das seine Sohnschaft bewies, nicht aber ihn als Sohn einsetzte.
Wie Schreiner zu Recht anmerkt: »Es ist ganz entscheidend, dass wir uns klarmachen, dass derjenige, der als Sohn in Kraft erwiesen wird, bereits der Sohn war.« Die Bestätigungen bei seiner Taufe und Verklärung unterstützen diese Schlussfolgerung, da diese Ereignisse Jesu Auferstehung vorausgingen, aber nachdrücklich seine Sohnschaft deklarieren. Was war also das Ziel der nachdrücklichen Bekräftigungen des Vaters?
Er nannte Jesus seinen geliebten Sohn. Damit deklarierte der Vater nicht nur eine vom göttlichen Wesen, sondern eine von göttlicher Liebe geprägte Beziehung. Sie hatten eine Beziehung gegenseitiger Liebe, Hingabe und Identifikation in jeder Hinsicht.
Indem er sprach »an dem ich Wohlgefallen gefunden habe«, erklärte der Vater beides. Seine Zustimmung zu und seine Übereinstimmung mit allem, was der Sohn war, sagte und tat. Alles an Jesus war in perfekter Übereinstimmung mit dem Willen und Plan des Vaters.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus „Biblische Lehre – Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit“. (Kapitel IV – 1.2: Der ewige Sohn Gottes)